Kooperation – plötzlich hierarchiefreie Zone!?

Mit der Entscheidung für ein Kooperationsmodell haben drei Organisationen ein Netzwerk etabliert, also einen hierarchiefreien Raum geschaffen. Das klingt zunächst trendy, aber es bedeutet auch, auf funktionierende bekannte und herkömmliche Lösungsmuster und eine bewährte Reduktion von Komplexitätsbewältigung – nämlich hierarchische Entscheidungen – zumindest teilweise zu verzichten. Entscheidungsprozesse müssen folglich anders gestaltet werden, aber wie?

PROLOG ist ein Markenzusammenschluss dreier namhafter sozialer bzw. arbeitsmarktpolitischer Unternehmungen in Vorarlberg, die als verlängerte Werkbank der Industrie agieren. Sie schaffen Arbeitstrainings und Beschäftigungsplätze für Menschen unterschiedlicher Zielgruppen, wie Personen, die langzeitarbeitslos oder geistig behindert sind. Die Kooperation veranlasst das Überdenken von etablierten Entscheidungsprozessen, wie sie in den jeweiligen Organisationen üblich sind. Womit diese Organisationen nicht gerechnet haben ist, dass damit Veränderungen verbunden sind, die weit in die jeweiligen Strukturen hinein wirken. Sie können sich dieser Dynamik nicht entziehen, sie können sie aber als neues Lernfeld gut nutzen. Unter dem Motto „Mut zur Lücke“ hat das Netzwerk gestartet und erarbeitet sich die Kooperationsfähigkeit kontinuierlich. Mit der nötigen Konsequenz, nicht ohne Aufwand und nicht ohne Konflikte. AbStandortgraphiker sehr produktiv. Denn die Erlöse steigen und die Reibungsverluste, die aus dem neuen Organisationsmodell entstanden sind, nehmen seit einiger Zeit ab. Der Ausblick stimmt zuversichtlich. Aus dem zarten Pflänzchen soll eine ganze Hecke werden.

An den drei Standorten der Arbeitsgemeinschaft werden Aufträge aus Industriebetrieben abgewickelt. Die Lebenshilfe Vorarlberg ist an allen drei Standorten aktiv. An zwei der drei Standorte ist in denselben Räumen, aber mit einem anderen Klientel, jeweils eine weitere Einrichtung Aktiv einmal INTEGRA Vorarlberg und am anderen Standort ABF – die Arbeitsinitiative Bezirk Feldkirch. Je nach Auslastung, Fähigkeiten und Preisgefüge können Aufträge zwischen den Einrichtungen verteilt werden, bei Bedarf kann ein Auftrag auf drei Standorte aufgeteilt werden.

Im Tagesgeschäft treffen die beiden Standortleitungen (Oberland, Unterland) des jeweiligen Standorts gemeinsam Entscheidungen über Angebotspreise, Auslastung, Urlaube etc. In einer monatlichen Teambesprechung treffen sich alle fünf Standortleitungen zur Planung.

 

Standorteffekte

Die Führungskraft trifft Entscheidungen nach den eigenen Prämissen, aber immer unter Berücksichtigung der eigenen Organisationskultur und dem jeweiligen Organisationskontext. Diese Führungskraft ist zugleich auch Standortleitung. Somit gesellen sich andere Variationsmöglichkeiten für einen Entscheidungsprozess hinzu. Dies sind vor allem die persönlichen Präferenzen der gleichberechtigten Standortleitung der anderen Organisation sowie jene entscheidungsbestimmenden Fragmente aus der Organisationskultur, die durch die enge Zusammenarbeit mit der „anderen Organisation“ erlebbar werden. Dazu kommt, dass aufgrund der unterschiedlichen Klientengruppen der Organisationen unterschiedliche Anforderungen an Entscheidungen abzustimmen sind. Ein weiterer zentraler Faktor stellen Budgetvorgaben inkl. Umsatz- und Gewinnziele, der jeweiligen Einrichtungen dar. Für die Erreichung der Budgetvorgaben ist die Standortleitung selbst verantwortlich. Wirtschaftlich bleibt sich jeder in einem solchen Modell selbst der Nächste. Dadurch bleiben die Selbstverantwortung der Führungskraft und auch die Selbststeuerung erhalten. Die Verantwortung für die Zielerreichung kann nicht an einen der Kooperationspartner delegiert werden.

Konfrontiert mit den eigenen und den „anderen“ Variationsmöglichkeiten beim Treffen einer Entscheidung gibt es somit eine größere Variationsmöglichkeit für die Führungskräfte. Wird von dieser Variationsmöglichkeit Gebrauch gemacht, entstehen Entscheidungsprozesse bzw. Entscheidungsresultate die differenter sind, als das bisher in der jeweiligen Organisation gelebte.

Netzwerkeffekte

Bei den monatlichen Meetings der Standortleitungen, treffen also drei VertreterInnen der einen Organisation (aus drei verschiedenen Standorten) und zwei Personen von je zwei anderen Organisationen zusammen. Es summieren sich die Entscheidungspräferenzen der fünf Personen und die Entscheidungspräferenzen von drei Organisationen. Das eröffnet neue Perspektiven und wirft in der Praxis allzu oft Fragen auf.

hierarchiefreier Raum

Eine Ebene darüber treffen sich deren Vorgesetzte zu dritt alle paar Monate um strategische Fragen zu bearbeiten. Die Ebene mit den Vorgesetzten ist es gewohnt weitreichende Entscheidungen in der eigenen Organisation z.B. als Geschäftsführer zu treffen. Da sie durch die Kooperationsentscheidung teilweise auf hierarchische Lösungs- und Entscheidungswege verzichtet haben, diese wurden an das Gremium der Standortleitung delegiert, müssen diese im Dreieck mit den anderen Organisationen verhandelt werden. Sie verlieren in Teilbereichen an Einfluss, können diesen aber in der eigenen hierarchischen Struktur gegenüber den Standortleitungen wieder einfordern. Die größte Herausforderung liegt folglich bei den Standortleitungen. Ihre Variationsmöglichkeit beim Entscheiden, hat immens zugenommen, gleichzeitig steigt ihr Einfluss. Dieser entsteht aber aus dem Zwang im hierarchiefreien Raum eine Entscheidung herbeizuführen um das Tagesgeschäft gut zu bewältigen. Eine Aufgabe, die deren Vorgesetzte nicht mehr wahrnehmen können. Das würden deren Zeitressourcen sprengen.

 

Beispiel A

Ein Großkunde wurde in der Vergangenheit von bis zu drei Vorgesetzten und einer Standortleitung betreut. Die konkrete Auftragsabwicklung steuerte die Standortleitung. Der Großkunde hat angekündigt sich aus der Vereinbarung zurück zu ziehen, die Beziehung bleibt noch ein Jahr aufrecht. Die Auslastungsplanung und Vertriebssteuerung ist in der Zuständigkeit der Standortleitungen. Wer denken Sie, sind nun die Verantwortlichen die nächsten Schritte zu planen? Auf Ebene der Vorgesetzten wird das Thema angesprochen. Der Geschäftsführer der INTEGRA sagt bestimmt, es ist Aufgabe der Standortleitungen. Der Geschäftsführer des ABF reflektiert aufgrund der eigenen Organisationskultur, es sei seine Aufgabe und nicht die „seiner“ Standortleitung, die Schaffung von Rahmen sei nämlich auf Ebene der Geschäftsführung angesiedelt. Beide sind naturgemäß von der jeweils eigenen Organisationskultur überzeugt. Ein nächstes Treffen wird vereinbart, wo das Thema erörtert wird. Es kommt also zu keiner Entscheidung in der Sache. Aus einer Randbemerkung des Geschäftsführers der INTEGRA wird mehr deutlich. „Vielleicht machen die Standortleitungen ja einen Vorschlag dazu.“ Geschieht dies nun, ist es ein Eingriff in die Kultur und Regeln des ABF, geschieht dies nicht, ist es ein Eingriff in die Kultur und Regeln der INTEGRA. Es ist Aufgabe der Standortleitungen eine kluge Vorgangsweise zu entwickeln um ihre Aufgaben erfüllen zu können und um zu einer alltagstauglichen Lösung zu finden.

 

Beispiel B

Die Steuerung des Vertriebs obliegt dem Gremium der Standortleitungen. Kommt es zu Zeiten mit weniger Auslastung, treten schwere Herausforderungen in den Vordergrund. Welcher Auftrag wird nun an welchem Standort von welcher Organisation zu welchen Anteilen ausgeführt.

Zur Erinnerung,

  • jede/r Standortleitung ist für die eigene Erwirtschaftung selbst verantwortlich.
  • Es gibt keine Möglichkeit über Hierarchien zu Entscheidungen über die Auftragszuteilung zu gelangen, jede direkte Intervention zugunsten der eigenen Organisation würde für Konflikte sorgen.
  • Das Match um die Verteilung der Aufträge ist nicht nur eine Frage der Verteilung zwischen Organisationen, sondern auch von einer Frage der Verteilung innerhalb einer Organisation mit ihren drei Standortleitungen.

Die Lösung muss also im hierarchiefreien Raum zwischen den Standortleitungen verhandelt werden. Nur die Regeln über den Modus können auf Ebene der Vorgesetzten bestimmt werden, doch auch das wird ohne Absprache mit den Standortleitungen nicht wirkungsvoll sein.

Wenn die Kooperation also mittelfristig und längerfristig in dieser Form aufrechterhalten bleiben soll, muss das Gremium der Standortleitungen mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet werden. Das Gremium muss in der Lage sein, die Auslastungen transparent zu kommunizieren und zumindest teilweise gemeinsam und in geteilter Verantwortung über Auslastungen entscheiden. Gemeinsam abgestimmte Kriterien helfen dazu.

 

Chancen und Fallen für Organisationen

Das Entscheiden im hierarchiefreien Kooperationsraum entzieht der jeweiligen Organisation teilweise ihren Einfluss. Einige Entscheidungen können in diesem Rahmen nicht mehr innerhalb der Organisation gefällt werden. Das bedeutet auch, dass die Standortleitungen nicht im vollen Umfang mit Anweisungen oder Ausführungsbestimmungen belastet werden können, sie müssen teilweise auch in Kernaufgaben wie der wirtschaftlichen Zielerreichung Entscheidungen fällen, die nicht nur im Einflussbereich der eigenen Organisation liegen. Der Verantwortungsgrad und auch der Grad an Autonomie muss bei den Standortleitungen im Verhältnis zu früher (ohne die Kooperation) steigen. Damit erhöhen sich aber auch die Anforderungen an die Kooperations- und Verhandlungsfähigkeit der Standortleitungen.

Für die jeweilige Organisation ist es ein Lernfeld mit Kooperationen umzugehen, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Kooperationen Früchte tragen können.

Dazu gehört:

  • Einen konstruktiven wertschätzenden Umgang zu finden, wie mit dem „anders sein“ der jeweiligen Stellen / StellenleiterIn umgegangen wird, da diese nicht nur dem Einflussbereich der eigenen Organisation unterliegen, sondern auch Impulse der Partnerorganisationen aufnehmen müssen.
  • Einen konstruktiven Umgang mit der erhöhten Autonomienotwendigkeit der Standortleitungen finden.
  • Die Impulse für die Gestaltung von Entscheidungsprozessen aufzunehmen und / oder diese deutlich von den eigenen Entscheidungsprozessen abzugrenzen.
  • Organisationen sind gefordert ihr internes Bild über Führen und Entscheiden anzupassen und ihre Führungskräfte auf diesem Weg mitzunehmen.
  • Erstellen von klaren und nachvollziehbaren Zielen, die in einer solchen Kooperation erreicht werden sollen.
  • Aktive Pflege des Partnernetzwerks.
  • Sind Entscheidungsprozesse mit einer größeren Variationsbreite erst einmal in Teilbereichen der Organisationen etabliert, wirken diese auch auf die eigenen Organisationen zurück, die Bereitschaft zum Umgang mit den Konsequenzen verhindert Panik und Überreaktionen.
  • Ressourcen für die betroffenen Mitarbeitenden zur Verfügung zu stellen, um die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Arbeit im hierarchiefreien Raum zu entwickeln.

 

Fallen für Organisationen

  • Die Autonomiebestrebungen der Standortleitungen oder auch deren Vorgesetzten, wenn mehrere Hierarchieebenen vorhanden sind, können in der Organisationen große Spannungen (Identität, Strategien,…) verursachen, was möglicherweise harte Schnitte mit sich bringt. Die intensive Einbindung der Standortleitungen in die eigenen Organisationsdynamiken ist eine wichtige Aufgabe.
  • Kooperationen in einem solchen Ausmaß müssen in der Strategiefindung und Strategiebildung der jeweiligen Organisation berücksichtigt werden. Ständige Stop /Go Situationen in den Kooperationsfeldern vergrämen die Kooperationspartner.
  • Wenn die Personalpolitik den Anforderungen aus dem Kooperationsfeld nicht Rechnung tragen, wird die Kooperation schwer belastet. Die Partner fragen dann nach der Ernsthaftigkeit der Absichten.

Die Entscheidung, mit einer gemeinsamen Marke nach außen aufzutreten lohnt sich für die Organisationen, die die Kooperation weiter ausbauen wollen. Nutzen die Organisationen das aufgezeigte Potential, hat dies weitreichende und positive Lerneffekte. Die Resilienz und Lernfähigkeit der Organisationen kann an diesem Beispiel weiterentwickelt werden. Die beteiligten Akteure werden zu Changeagents für weitere Formen der Zusammenarbeit. Die positive Reaktion auf die Überraschung, dass durch Prolog weitreichende Veränderungen in der eigenen Organisation verbunden sind, stärkt nicht nur deren Kooperationsfähigkeit. Die Resilienz der Organisation nimmt mit fortschreitender Kooperation deutlich zu. Mittelfristig liegen in solchen Formen der Zusammenarbeit nicht nur Vorteile für die jeweiligen Organisationen, im vorliegenden Fall öffnen sich auch sozialpolitische Perspektiven.

 

Die Aufgabe der Jochum-Müller OG bestand in den vergangenen Jahren darin, die drei Partner in ihrem Kooperationsprojekt zu beraten, Besprechungen zu moderieren und die Modalitäten für die Zusammenarbeit zu entwickeln.

Ein Bereichsleiter bei der Leistungspräsentation im Vorarlberger Landhaus im April 2014: „Ohne Dich wären wir nicht dort, wo wir jetzt angekommen sind. Du hast einen entscheidenden Anteil an der positiven Entwicklung von PROLOG.“

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Lebenshilfe Vorarlberg, der INTEGRA Vorarlberg und der Arbeitsinitiative Bezirk Feldkirch.

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